Transgenerationales Erbe

Immer wieder Schwierigkeiten im Job, in der Beziehung, mit den Eltern: Belastende Muster, die über Generationen hinweg in einer Familie weitergegeben werden, sind häufig die Ursache, sagt die Systemische Familien- und Psychotherapeutin Sabine Lück. In ihrem aktuellen Buch „Vererbtes Schicksal“ schildert sie anhand eines ausführlichen Praxisprogramms, wie man unbewussten Verstrickungen auf die Spur kommen und zu seinem wahren Sein finden kann. Interview mit der Systemischen Familientherapeutin Sabine Lück Frau Lück, bei Ihrer „Stammbaumforschung“ geht es nicht nur um Namen und Daten. Sie schauen nach traumatischen Mustern, die über Generationen vererbt werden. Wieso kann es für einen Menschen heute wichtig sein, sich damit zu befassen? Wir machen es uns im Alltag selten bewusst, aber das Leben eines Menschen ist in der Regel von den Erfahrungen geprägt, die seine Vorfahren in der Vergangenheit gemacht haben. Insbesondere traumatische Erfahrungen, die unbearbeitet blieben, weil es zu schmerzhaft war, sie zu fühlen, werden an uns weitergegeben. Wir sprechen hier auch von einem „transgenerationalen Erbe“, von einer „Familienwunde“. In der heutigen Generation kann sich eine solche Wunde darin bemerkbar machen, dass jemand im Job immer wieder übergangen wird, keinen Partner findet, ein Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Es können körperliche Symptome auftreten sowie psychische Erkrankungen, u. a. Ängste, Zwänge und Depressionen. Sie haben mehr als 800 Ahnenreihen angeschaut, was sind denn klassische Familienwunden? Gerade in Deutschland haben natürlich die beiden Weltkriege für heftige Einbrüche gesorgt. Manche Menschen haben diese Zeiten ganz gut verkraften können, weil sie auf dem Land lebten, aber trotzdem waren die Folgen schlimm, weil der Vater nicht aus dem Krieg zurückkehrte. Oder er kam zurück, war aber ein gebrochener Mann, der seine unbearbeiteten Kriegstraumata an seiner Familie, an seiner Frau ausließ. Therapie gab es nicht, und so wurden die Traumata weitergegeben. Hinzu kommen all die Menschen, die im Krieg Dramatisches erlebt haben. Und weil es zwei Weltkriege waren, hat sich manchmal in der nächsten Generation die gleiche Geschichte wiederholt, sogar im gleichen Alter. Haben Sie ein Beispiel? Auch in meiner Familie war das so. Meine Oma ist 1914 geboren, meine Mutter 1940, also jeweils zu Kriegsbeginn. Sie mussten in dieser Zeit auf ihren Vater, ihre Mütter auf ihren Mann verzichten. Der Vater meiner Oma, also mein Urgroßvater, starb. Mein Großvater geriet in Gefangenschaft und kam erst 1948 zurück, als meine Mutter 8 Jahre alt war. Beide haben die frühe Kindheit, diese wichtige Bindungszeit, ohne Vater verbracht. Als ich schließlich eine kleine Tochter bekam, ging die Beziehung zu ihrem Vater in den Monaten danach in die Brüche, und ich war auch allein mit dem Kind. So wiederholt sich in einer Ahnenreihe ein Schicksal, das schon bei der Uroma begonnen hatte und sich im Verhalten einer Familie niederschlägt. Wie Eltern mit ihren Reaktionen und Emotionen auf ihre Kinder eingehen können, wie es mit der Bindungsfähigkeit aussieht – all das hängt mit den Erfahrungen zusammen, die sie selbst gemacht haben, und mit den Erfahrungen, die ihre Eltern und deren Eltern gemacht haben. Welche anderen Familienwunden zeigen sich noch häufig? Manches mischt sich, in vielen Familien gehören Flucht und der Verlust von Heimat dazu. So auch bei mir und meiner Familie: Meine Mutter musste aus Ostpreußen fliehen und wanderte nach Afrika aus. Mein Ururgroßvater väterlicherseits ging nach dem Tod seiner Frau als Kolonialist nach Namibia. Hier bin ich selbst geboren und aufgewachsen. Als ich 11 Jahre alt war, starb auch mein Vater. Danach zog meine Mutter mit mir nach Südafrika, 4 Jahre später dann nach Deutschland, das mir völlig fremd war. Wie wirkt es sich aus, wenn Vorfahren Gewalt ausgeübt oder erlebt haben? Das wurde ja vermutlich noch eher verdrängt. Genauso ist es. Viele haben Täter in der Familiengeschichte. Das können einfache Soldaten gewesen sein, die Täter wurden, aber auch etwa höherrangige Nationalsozialisten. Da musste man später ganz stark in die Verleugnung gehen, weil das Geschehene unerträglich war und von der Gesellschaft zudem abgelehnt wurde. Oder denken Sie an die vielen Frauen, die nach dem Krieg oder in den letzten Kriegsjahren vergewaltigt wurden. Das ist eine unglaubliche Zahl. So ein schweres Trauma hat Auswirkungen auf den Umgang mit Sexualität und Partnerschaft für die betroffenen Frauen selbst, für Kinder, die Zeuge solcher Übergriffe wurden, aber auch für nachfolgende Generationen. In meiner Arbeit als Therapeutin begegne ich immer noch Zwangsstörungen bei Enkelkindern in der Pubertät, die darauf zurückzuführen sind. Werden Themen immer direkt von einer Generation auf die nächste übertragen? Manchmal wird auch eine Generation übersprungen. Ängste sind ein großes Thema in Deutschland, weil so viel Angst ausgehalten werden musste, in verschiedenster Hinsicht. Man brauchte Überlebensstrategien, lernte, die Angst zu verdrängen, aber das funktioniert ja nicht. Sie bleibt wie in einer Seelenkapsel erhalten, und in der nächsten oder auch übernächsten Generation geht man dann mit Angst nicht gesund um: Entweder hat ein Nachfahre große Ängste, etwa eine generalisierte Angststörung oder eine Phobie, oder er ignoriert Angst komplett. In diesem Fall möchte man aber auch von seinem Kind nicht mit Angst konfrontiert werden. Leidet die Tochter oder der Sohn dann aber unter Ängsten, sagt man: „Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Reiß dich zusammen!“. So lässt man das Kind mit der Angst allein, die eigentlich alt und aus einer früheren Generation zu ihm gelangt ist. Hat die Mutter oder die Großmutter Ängste abgewehrt, kann es sein, dass ein Kind eine schwere Angststörung entwickelt. Denkbar sind auch Zwangsstörungen, selbstverletzendes Verhalten, depressive Episoden. All das ist eine Mischung aus dem, was als Erbe der Vorfahren im Körper sitzt, und aus dem, was man selbst in seinem Leben bisher erlebt hat. Bin ich ein Kind, das Angst vermeidet, erlebe ich bestimmte Themen, die das weiter aufladen und die Angst weiter verstärken. Der Generationscode Auf welche Weise wird ein solches familiäres Erbe über Generationen weitergegeben? Ich erkläre das gern mit Hardware und Software. Die Hardware sind unsere Gene. Hier sind unveränderliche Aspekte wie die Haarfarbe oder die Körpergröße hinterlegt. Die Software hingegen sind gravierende Erfahrungen, die sich quasi auf die Gene legen, sie „bespielen“, an- und ausschalten. Dies wird Epigenetik genannt. Die gute Nachricht ist, dass dieser zweite Code veränderbar ist, wenn wir uns seiner bewusst werden und ihn bearbeiten. Meine Kollegin Ingrid Alexander und ich haben vor 30 Jahren diesen Code entdeckt, dafür den englischen Begriff „Generation-Code“ entwickelt und in dem Buch „Ahnen auf der Couch“ (1) beschrieben. Wie funktioniert das mit dem An- und Ausschalten dieses Codes? Beim Menschen ist das noch nicht wirklich verstanden und nachgewiesen. Aber es gab Hinweise in Tierversuchen. Ratten in einem Käfig bekamen immer einen leichten Stromschlag, wenn sie in eine bestimmte Ecke des Käfigs liefen. Die Tiere merkten sich das und mieden dieses Areal. Die Ratten der nächsten Generation machten das genauso, obwohl der Strom längst abgeschaltet war. Das bedeutet, unser Denken, unser Fühlen und unser Verhalten sind von diesem familiären Erbe unsichtbar überlagert? Ganz genau. Der Treuevertrag In Ihrem neuen Buch „Vererbtes Schicksal“ (2) beschreiben Sie, wie sich dieses Erbe „enttarnen“ lässt und wie wir es schaffen können, sozusagen darauf zu verzichten. Eine wichtige Rolle scheint der sogenannte Treuevertrag zu spielen. Was hat es damit auf sich? Ingrid Alexander und ich haben entdeckt, dass Kinder aktiv einen sogenannten Treuevertrag eingehen, und zwar einen mit der Mutter und einen mit dem Vater. Im Verhalten der Eltern ihrem Kind gegenüber zeigen sich unerfüllte Sehnsüchte. Daraus ergeben sich unbewusste Botschaften und Aufträge, die sie ihrem Kind weiterreichen. Das Kind geht darauf ein, denn es spürt schon ganz früh genau, worin die jeweilige Wunde seiner Eltern besteht. Es sagt sich unbewusst: „Daran rühre ich besser nicht. Wie kann ich meine Eltern für das entschädigen, was sie erlebt haben? Was brauchen meine Mutter und mein Vater, damit es ihnen gut geht? Denn geht es ihnen gut, können sie für mich die Eltern sein, die ich brauche, um zu bekommen, was ich selbst benötige.“ Auf diese Weise versucht das Kind zur Heilung der familiären transgenerationalen Wunde beizutragen. In meinem aktuellen Buch „Vererbtes Schicksal“ beschreibe ich fünf grundlegende Heilungswege des Kindes. Wie sehen diese fünf Heilungswege aus? Vorweg sei gesagt, dass sie alle unbewusst eingeschlagen werden. Heilungsweg I: Elterliche Anteile werden auf ein Kind übertragen. Entbehrte die Mutter als Kind eine liebevolle Mutter, versucht sie nun, ihrem Kind all das zu geben, was sie vermisst hat. Das Kind stellt sich dafür als „unversorgtes inneres Kind“ zur Verfügung. Heilungsweg II: Sind die Eltern sehr belastet, will das Kind keine zusätzliche Last sein und nimmt sich mit seinen Bedürfnissen zurück. Ein solches Kind „beeltert“ sich selbst und wirkt früh unabhängig. Heilungsweg III: Eltern behandeln ihr Kind wie einen Erwachsenen, das Kind fühlt sich umso mehr dafür verantwortlich, dass es den Eltern gut geht. Bei einer Trennung wird das Kind oft zum Ersatzpartner. Heilungsweg IV: Das Kind wird zum Vorbild für seine Eltern, indem es Fähigkeiten entwickelt, die diesen gefehlt haben und bis heute fehlen. Heilungsweg V: Gab es in der Vergangenheit Täter- oder Opfererfahrungen (etwa auch durch eine Vergewaltigung), übernimmt das Kind verdrängte Gefühle von Schuld, Scham, Hass, Angst vor Rache oder Trauer über das Geschehene. Diese können sich z. B. in einer Essstörung äußern, als Versuch, sich nicht zu „verunreinigen“. Diese Heilungswege scheinen gut gemeint, haben aber doch alle ihren Preis. Und bleibt die eigentliche Wunde nicht unberührt und damit ungelöst? Der Treuevertrag, der zum Heilungsweg führt, soll die vermeintliche Lösung sein. Oft verbinden sich sogar mehrere miteinander. Alle diese Heilungsversuche führen jedoch dazu, dass Kinder nicht ihre altersgemäßen Entwicklungsschritte machen, die von der Abhängigkeit immer mehr in die Autonomie führen sollten. Gleichzeitig überfordern sie sich selbst von ihrem eigenen Versuch, die Eltern zu heilen. I: Die Selbstwirksamkeit wird nicht gestärkt. Das Kind erlebt nicht, dass es das Leben mehr und mehr meistern kann. II: Es wird eine Scheinidentität aufgebaut im Glauben, „groß zu sein und niemanden zu brauchen“. III: Viel zu früh wird eine Verantwortung übernommen, die gar nicht die eigene ist. Ein solches Kind versäumt eine unbeschwerte Kindheit. IV: Durch sein Vorbild-Sein verliert das Kind den Kontakt zu sich selbst und zur eigenen Identität. V: Die übernommenen Anteile werden zu einem Teil des Kindes. Sie werden verinnerlicht, das Kind kann sich schließlich nicht mehr davon distanzieren und meint, es selbst sei so. Wir sprechen hier von Introjekten. Die Pubertät ist eine wichtige Zeit, um sich mehr von den Eltern zu lösen. Kollidiert das nicht mit den Treueverträgen? In der Pubertät baut sich das Gehirn um, und es gibt einen starken inneren Impuls, wegzugehen vom Stamm, in das eigene Leben. Besteht aber zu diesem Zeitpunkt ein Mangel an erfüllten Abhängigkeitswünschen, an Aufgehobensein, an einem Gut-gespiegelt-Sein, wird die Treue einen blockieren, autonomer zu werden. Nicht selten kommt es dann zu einer tiefen Krise. Süchte können erstmals auftreten, Identitätsstörungen oder sogar Psychosen, weil diese jungen Menschen teilweise kein Gefühl mehr dafür haben, wer sie eigentlich sind. Angenommen, die Pubertät verläuft nicht ganz so schwierig, wie ist es mit den Treueverträgen im späteren Leben als Erwachsener? Das ist es ja gerade. Ein Mensch bleibt diesem Lösungsansatz verhaftet. Er zieht zwar aus, gründet vielleicht eine eigene Familie, wird beruflich erfolgreich. Aber an dem Punkt, wo die Treue ansetzt, wo sich immer noch die Familienwunde befindet, ist keine wirkliche Ablösung möglich, und man richtet vieles im Leben darauf aus. Den Beruf, den man wählt, den Partner, für den man sich entscheidet, die Art, wie man mit anderen umgeht, auch mit den eigenen Kindern. Da bleibt immer noch diese Mission: „Ich muss das noch heilen, diese Ahnenwunden, damit es irgendwann positiv nach vorne weitergeht.“ Wie war das bei Ihnen? Als mein Sohn geboren wurde, habe ich von Anfang an diesen Bezug zu meinem Vater gespürt. Er sah tatsächlich genauso aus, als er auf die Welt kam. Und obwohl ich schon all diese Dinge wusste, spürte ich diese machtvolle Verführung, jetzt meinem Sohn genau das zu geben, was mein Vater nicht hatte: eine ganz liebevolle, warme Mutter, die von Herzen mit ihm sein kann. Und genau darin wird diese Wunde aber übertragen. Möchte nicht nahezu jede Mutter eine liebevolle Mutter sein? Wo ist die Falle an dieser Stelle? Die Falle ist die Verwechslung. Solange ich meinen Vater in meinem Kind versorge, sehe ich ja nicht meinen Sohn mit seinen Bedürfnissen. Er bekommt trotzdem viel Gutes ab, aber er kriegt auch mit, dass er gar nicht gemeint ist. Er stellt sich damit zur Verfügung und erfüllt die Dinge, die für meinen Vater und auch seinen Vater gut gewesen wären. Zum Glück war mir das bewusst, und ich hatte auch gute Begleitung. So konnte ich mir immer wieder klarmachen, wo mein Sohn ganz anders ist und dass er eine ganz andere Lebenssituation hat als mein Vater. Dadurch konnte ich anders auf ihn blicken, und mein Sohn musste nicht diese Art von Schutz bekommen, die mein Vater als Kind gebraucht hätte. Wenn jemand Chef wird, was möchte er vielleicht heilen? Vielleicht waren in der Familie schon immer Patriarchen, und es ist ein wichtiger Punkt in dieser Familie, das fortzusetzen. Oder es hat genau das gefehlt, weil Männer gestorben sind oder es nicht geschafft haben, ihre Familie zu ernähren, und dann ist jemand genau dieser Vater, der das jetzt hinbekommt. Es kommt auf die Motivation an. Habe ich meine Position in der Mission des inneren Kindes erlangt, mit der omnipotenten Idee, damit die Eltern zu retten, den ganzen Familienstamm, vielleicht die ganze Welt, führt das zwangsläufig zur Selbstausbeutung und schließlich in den Burn-out oder die Depression. Ich bin ja gar nicht mehr an mich und meine Bedürfnisse angebunden. Gilt das auch für Frauen? Gerade bei Frauen kann man das sehr oft sehen, denn Frauen früherer Generationen durften sich nicht selbst verwirklichen. Sie waren auf die Mutter- und Hausfrauenrolle festgelegt, dabei wollten sie selbst etwas erreichen im Leben. Sie haben nicht selten Töchter, die studieren und Karriere machen. Ich gehöre selbst ein Stück weit dazu. Inwiefern? Meine Mutter wäre sehr gerne arbeiten gegangen, aber ich war es dann, die studiert hat und beruflich erfolgreich geworden ist. Als ich eines Tages in der Küche etwas zubereitet habe und eine Schürze trug, schaute meine Tochter mich ganz verliebt an und sagte: „Du siehst aus wie eine richtige Mutter!“ Ich war richtig geschockt und dachte: „Bin ich sonst keine richtige Mutter?“ Und dann wurde mir klar: Weil ich es nicht nur für meine Mutter, sondern sogar für die ganze weibliche Ahnenlinie mit hinkriegen wollte, dass Frauen sich endlich selbst verwirklichen und das mit den Kindern trotzdem gut hinbekommen, hat meiner Tochter vielleicht doch eine „heimelige Mutter“ gefehlt. Eine, die zu Hause ist, kocht, verfügbar ist und nicht ständig Termine hat. Schauen wir uns Ahnenreihen an, sehen wir oft, dass sich jemand genau in die Gegenseite entwickelt, und trotzdem – und das ist das Spannende – ist die Treue da. Weil man versucht, das hinzubekommen, was der Vorfahrin gefehlt hat oder nicht möglich war. Es ist eine Kompensation. Damit lebt man nicht wirklich das Eigene. Gibt es solche Treueverträge in jeder Familie? Letztlich in jeder. Damit sind aber immer auch verschüttete Potenziale und Ressourcen verbunden, die zugänglich werden, wenn wir beginnen, die Treueverträge aufzulösen. Was durfte wieder in Ihr Leben treten? Bei mir gab es über die Vater- und Mutterlinie das Thema, als Frau unabhängig sein zu müssen, sich nicht einlassen zu dürfen. Die Liebe war blockiert, weil es zu schmerzlich war, sein Herz zu öffnen. Denken Sie an meinen Ururgroßvater, er wanderte aus, weil er den Tod seiner Frau nicht überwinden konnte. Mein eigener Vater erschien mir streng und unnahbar. Die Ressource war, sich als Frau auch einmal hingeben zu können. Nicht immer nur die Bestimmende, Kontrollierende zu sein, sondern auch wesentlich weiblicher sein zu dürfen. Ich konnte mich von da an auch mehr als Mutter und als Ehefrau fühlen und musste das nicht mehr opfern für die anderen Werte. Als das wieder in mein Leben trat, war es wie ein warmer, wohliger Strom und auch ein Wiedererkennen von etwas, das lange gefehlt hatte. Und ich erlebte einen enormen Schub an Kreativität, wie zuletzt als Kind. In dieser Phase habe ich mein Stammbaumspiel für Therapeuten (3) entwickelt. Das Heilserum In Ihrem Buch beschreiben Sie Schritt für Schritt, wie jeder seine Treueverträge erkennen, benennen und auflösen kann. Sie bezeichnen diesen Prozess als Reise. Was gehört alles dazu? Es handelt sich um eine lange Reise, für die man sich viel Zeit mit genügend Pausen einräumen sollte und die in Etappen stattfindet. Wie bei jeder Reise beginne ich mit der Vorbereitung. Im Buch werden verschiedene meditative Übungen beschrieben, um mit der Vergangenheit, den Ahnen und sich selbst in Kontakt zu kommen und aus dem Inneren Antworten aufsteigen zu lassen. Das kann teilweise starke Gefühle triggern. Deshalb gehört zur Vorbereitung das Etablieren eines inneren „sicheren Ortes“, es gibt ein Selfcare-Training, und wir packen eine Schatzkiste mit eigenen, schon vorhandenen Ressourcen sowie einen „Notfallkoffer“. Darin befindet sich dann etwa die Telefonnummer einer wichtigen Bezugsperson, wenn eine Übung starke Gefühle hervorruft und ich jemanden brauche, um mich emotional wieder zu regulieren. Vieles davon, wie etwa die Schmetterlingsumarmung, mit der man sich selbst wieder entspannen kann, stammt aus der Traumatherapie. Dann schauen wir uns an, welche Treueverträge oder Botschaften es gibt und wie sie lauten. Das könnte etwas sein wie: „Du darfst dich nicht selbst mehr annehmen, als ich mich annehmen konnte und geliebt wurde.“ Um sie aufzulösen, greifen Ingrid Alexander und ich zu einem Trick: Wir stellen uns vor, die Ahnen hätten alles zur Verfügung gehabt, was sie gebraucht hätten. Wir nennen dies das „Heilserum“. Zum Schluss schaffen wir die Verbindung in die Gegenwart und in eine Zukunft, in der wir nicht länger fremdbestimmt sind, sondern authentischer wir selbst. Dafür gibt es Übungen. Was war Ihr Heilserum? Mein Urgroßvater väterlicherseits hatte seine Kinder Ende des 19. Jahrhunderts kurz nach der Geburt verloren: Man stellte die Zwillinge ans kalte Fenster, damit ihre Lungen reiften. Stattdessen erfroren sie. Das war ein Schock. In den folgenden Generationen kamen immer wieder Kinder ums Leben, mein Vater hat selbst zwei Geschwister verloren. Er mied den Kontakt mit mir, weil warmherzige Gefühle diese Wunde wieder aufgerissen hätten. Mein Treuevertrag mit ihm lautete: „Enttäusche deinen Vater nicht und verzichte auf väterliche Nahrung und Nähe, so wie er auf diese Herzenswärme verzichten musste. Sei ihm treu, indem auch du dein Herz verschließt und keine Nähe zulässt.“ Auch interessant: Mein Sohn lebt bei seinem Vater aus zweiter Ehe und hat eine Schwester verloren, aber sie ist schon vor seiner Geburt gestorben. Ich selbst habe kein Kind verloren. Als Heilserum stellte ich mir nun zutiefst bildhaft vor, wie die Zwillinge, also die Kinder meines Urgroßvaters, behütet ins Leben traten und die Fürsorge erhielten, die sie brauchten, wie alle anderen Kinder genährt wurden und leben durften. Schließlich floss der Strom der Liebe zu meinem Vater, zu mir und weiter bis zu meinem Sohn. Das war unglaublich berührend. Heute kann ich sagen, dass mein Herz ganz offen ist, und die ganze Wärme darf hinaus. Sie sagen, diese Reise ist der Beginn der Liebe zu sich selbst. Weil man beginnt, die anderen Menschen zu verstehen und sich selbst aus den Verstrickungen zu lösen. Absolut. Diese Arbeit hat einen Einfluss auf alles. Man verhält sich anders, agiert und reagiert anders. Man versteht viel mehr, was sich hinter den Handlungen eines anderen Menschen verbirgt. Verhält er sich auf eine bestimmte Weise, dann nicht, weil er einen ärgern will, sondern weil es ihm mit seiner Geschichte gar nicht anders möglich ist. Ich selbst gehe dann anders auf diesen Menschen zu, und er hat die Möglichkeit, auch anders zu reagieren. Denn sind die Ahnen versorgt, wird es glaubwürdig, dass die Eltern einen lieben. Nur in ganz seltenen Fällen konnten sich Menschen am Ende nicht vorstellen, dass die geheilte Ahnenreihe es etwa ermöglicht, dass auch die Mutter diese tiefe, echte Liebe für einen empfindet, so wie man sie gebraucht hat. Zumeist aber gelingt das, und das ist eine ganz tiefe Erfahrung von Angenommensein und Geliebtsein. Das verändert völlig. Zurück zu seiner ursprünglichen Essenz Als Systemische Familientherapeutin gehen Sie davon aus, dass das ganze System der Familie in Bewegung gerät, sobald sich ein Mensch in diesem System verändert. Das ist absolut faszinierend, und es geschehen die unglaublichsten Dinge. Einer Patientin hatte ihre Mutter noch nie gesagt, dass sie sie liebt. Nach der Arbeit mit dem Heilserum rief ihre fast 80-jährige Mutter noch am gleichen Tag an und sagt zu ihr: „Ich liebe dich!“ Vielleicht sind wir ja doch alle in Wahrheit untrennbar miteinander verbunden. Was unterscheidet Ihre Arbeit von der klassischen Systemischen Therapie? Den Treuevertrag und die Ahnenversorgung durch das Heilserum, das gibt es nur in meiner Arbeit. Wir starten direkt mit dem Fokus darauf und stellen nicht irgendein Thema auf. Die Rollenspieler haben im Vergleich zur klassischen Systemischen Therapie weniger Freiraum, um nicht ihre eigenen Themen mit einzubringen. Wir haben gemerkt: Es hilft nur kurzfristig, irgendwelche Päckchen an Ahnen zurückzugeben, solange die Ahnen nicht versorgt sind. Denn das war die Realität. Damit das Kind auch als Erwachsener seinen Treuevertrag loslassen kann, muss es sicher sein, dass es den Generationen vor ihm gut geht. Dafür setzen wir das Heilserum ein, auch wenn es nur in unserer Vorstellung existiert. Für das Gehirn aber ist das genauso echt, als wäre es so geschehen. Und dann sind wir uns selbst näher als je zuvor? Ich persönlich glaube, dass es eine Essenz gibt, die wir in uns tragen, die vielleicht Seele heißt, höheres Selbst oder göttlicher Kern. Diese Essenz ist da, sehr rein und vollkommen. Schon im Mutterleib aber werden wir davon abgetrennt, durch unsere Reaktionen auf das Überleben der vorherigen Generation und all diese Einflüsse, die auf uns einwirken. Ziel unserer Arbeit ist es, dass ein Mensch sich nicht mehr in den Dienst seiner Vorfahren und ihrer Wunde stellen muss, sondern den ureigenen Weg gehen kann, letztlich zurück zu dieser Essenz, unserem wahren Wesen. Das ist die große Sehnsucht aller Menschen. Heilen wir nun die Treueverträge oder lösen die Ahnen-Themen auf, dann kommen wir dieser Essenz und uns selbst näher. Dazu trägt maßgeblich bei, dass wir in Liebe diese Ahnenthemen behandeln. Es geht nicht um die bösen Eltern, die bösen Vorfahren und darum, sie abzulehnen. Natürlich müssen Schwierigkeiten und etwa Gewalt benannt werden, Täter und Opfer. Aber man darf dabei nicht stehenbleiben. Aus spiritueller Sicht lässt sich dann auch verstehen, dass das Erlittene vielleicht etwas war, was mir geholfen hat, mich weiterzuentwickeln. Was mich zunächst von mir abgetrennt, aber später doch näher zu mir selbst gebracht hat. Frau Lück, herzlichen Dank für dieses Gespräch! Andrea Freund Literatur (1) Ingrid Alexander und Sabine Lück: Ahnen auf der Couch. Den Generation-Code entschlüsseln und vererbte Wunden heilen. Scorpio Verlag, 2016. (2) Sabine Lück: Vererbtes Schicksal. Wie wir belastende Familienmuster überwinden und unser wahres Potenzial befreien. Kailash Verlag, 2023. (3) Sabine Lück: Starke Wurzeln – Das Generation-Code Spiel. Glückspiele Verlag, www.glueckspiele.info Über die Autorin Andrea Freund ist Autorin und Medizinjournalistin, ausgebildet als Heilpraktikerin für Psychotherapie (KVT), in Spiritueller Astrologie sowie als Yogalehrerin.

Der Artikel "Transgenerationales Erbe" ist Teil der Audio-Ausgabe August 2024

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